Himmelstreppe, 1980-1987

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Himmelstreppe Seitenansicht
Im Süden Marokkos will ich ein Lehmbauwerk in Form eines Dreiecks errichten. In Marokko ist die Tradition der Lehmbauweise ungebrochen, deshalb werden ortsansässige Handwerker die >Himmelstreppe< bauen. Das Dreieck, dessen langer Schenkel 23 Meter mißt (Boden), hat eine Höhe von 16 Metern. Die Hypotenuse beträgt 28 Meter: Hier verläuft zwischen zwei 140 Zentimeter hohen und 50 Zentimeter breiten Wangen-Brüstungen eine Treppe mit 52 Stufen. Die Stirnseite des Dreiecks ist an der Basis 6,80 Meter breit und verjüngt sich bis zur Spitze auf 3,60 Meter. Diese senkrechte Seite wird durch einen 60 Zentimeter tiefen Einschnitt profiliert und vertikal gegliedert. Die 52 Treppenstufen führen zu einer Plattform, die vier Meter unterhalb der Spitze des Bauwerkes liegt. Von dieser Ebene aus erreicht man zwei untereinanderliegende Räume.
Nach der Fertigstellung der >Himmelstreppe< möchte ich im unteren Raum einige Monate wohnen und während dieser Zeit für den oberen Raum ein aus zwei Flügeln bestehendes Objekt anfertigen. Die Flügel haben ein Federkleid aus handgeschmiedeten Messern. Die Spannweite beträgt 3,50 Meter. Die Spitzen berühren die seitlichen Raumwände. Der Raum zwischen den Flügeln bleibt so ausgespart, daß sich ein Mensch einfügen kann.

Realisiert 1985 - 1987 in Marokko (Marha-Ebene)
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Himmelstreppe Zeichnung auf Transparent 1980
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 1980
80 x 110 cm
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Himmelstreppe Zeichnung auf Transparent 1980
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 1980
80 x 120 cm
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Himmelstreppe Foto
Am Anfang standen Zeichnungen, die um Gestalt und Konstruktion der geplanten >Himmelstreppe< kreisten. Die Aufgabe der künstlerischen Dokumentation von Bau und anderen Aktivitäten hat, wie bei allen vorangegangenen Projekten, Ingrid Amslinger übernommen. Das ist, wie man sehen kann, keine Nebenaufgabe, sondern gehört zum künstlerischen Projekt. Die Fotografien sind gleichsam die notwendige äußere Überprüfung: kühl, distanziert, auf die Sache bzw. die Aktion und nicht auf Ereignismomente oder kühne fotografische Verwandlungen bedacht, deshalb in Schwarzweiß: so scheint plötzlich das konstruktive Grundmoment, die rationale Anlage durch.

Lothar Romain, Kein Turm von Babylon
in Hassi Romi
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Himmelstreppe Foto
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Aquarell auf Bütten
Aquarell auf Bütten, 1985
80 x 120 cm
Seit Fertigstellung von Bau und Eisenflügel hat Hannsjörg Voth wieder begonnen zu zeichnen und Objekte zu fertigen. An ihnen sind die Wandlungen sichtbar, die die langjährige Arbeit hier in der Mârhâ-Ebene im Bewußtsein des Künstlers bewirkt hat. Die Zeichnungen erobern die Innenwelt der ursprünglichen Idee auf vorher nicht vorausschaubare Weise: Traum und Phantasie verbinden sich hier mit Eindrücken und Erlebnissen aus der Umwelt, mit Afrika und besonders mit dem Maghreb.
Man hat manchmal den Eindruck, als lebten alte Höhlenzeichnungen wieder auf. In den Erzählungen der Nomaden erscheinen die Geschichten von gestern ohnehin wie gerade geschehen. Der Künstler hat einen Ort geschaffen, an dem zeichnerisches Fabulieren nicht wie europäische Fernsicht erscheint, sondern als Zeugnis einer neuen Totalität. Das Leben auf und in der Himmelstreppe, die Freundschaft mit Einheimischen und Nomaden greifen auf die Zeichnungen über.

Lothar Romain, Kein Turm von Babylon
in Hassi Romi
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Aquarell auf Büttenpapier 1990
Aquarell auf Büttenpapier, 1990
49 x 53 cm
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Aquarell auf Büttenpapier 1988
Aquarell auf Büttenpapier, 1988
36 x 48 cm
Es dämmerte schon, als Ben Bou die Wasserstelle erreichte und seine Kamele dort nicht fand. Niedergeschlagen begab er sich auf seinen Rückweg, da erschien ihm Aischa-Kandischa, der böse weibliche Geist. Ihr zu begegnen ist für einen Nomaden das Schlimmste. Aischa-Kandischa hat Kamelhufe, ist behängt mit schwarzen Ziegenfellen und erscheint nur in der Dämmerung an Wasserstellen oder an den Ufern der Oueds. Sie kann den Menschen derart verhexen, daß er auf der Stelle umfällt und für Jahre in tiefen Schlaf versinkt, es sei denn, er ist bei ihrem Anblick noch imstande, eine Koransure vorzutragen. Trotz seines großen Schreckens besaß Ben Bou die Geistesgegenwart, ein Zitat aus dem Koran aufzusagen. In diesem Augenblick verschwand Aischa-Kandischa. Zurück blieben drei Ziegenfelle, die im Mondlicht metallisch glänzten. Noch den Schreck in den Gliedern, ging er langsam weiter und fand seine beiden Kamele schlafend in einer Mulde. Er fesselte ihre Vorderläufe, lief zu seinem Zelt und verbrachte die Nacht im Gebet. Im Morgengrauen kehrte er mit Werkzeug an die Stelle zurück, wo seine Kamele immer noch friedlich ruhten. Aus Dankbarkeit, weil Allah ihm geholfen hatte, schlug er in langer, mühevoller Arbeit hier den nach ihm benannten Brunnen Ben Bou.

Hannsjörg Voth
in Hassi Romi
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Aquarell auf Büttenpapier 1990
Aquarell auf Büttenpapier, 1990
40 x 40 cm
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Aquarell auf Büttenpapier 1990
Aquarell auf Büttenpapier, 1990
40 x 42 cm
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Zeichnung auf Traparent
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 1985
120 x 200 cm
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Aquarell 1990
Aquarell, 1990
72 x 180 cm
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Aquarell 1993
Aquarell, 1993
80 x 80 cm
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Aquarell 1993
Aquarell, 1993
80 x 80 cm
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Objektkasten 1
Objektkasten, 1988-89
66 x 91 cm
Vor mir standen, oben umgekrempelt, Säcke, vollgefüllt mit Heilkräutern, Myrrhe, Weihrauch, Süßholz, zerstoßenem Paprika in unterschiedlichen roten Tönen, schwarzem Pfeffer und leuchtend gelbem Curry. In Holzkisten lagen stachelige Igelhäute, Gazhellenhufe, Falkenköpfe, Hasenpfoten, Widderhörner und Rattenskelette. Abgeschnittene Blechkanister waren angefüllt mit einem Gemisch aus Rochenstacheln, Marderkrallen, Seeigeln, Tierhaarbüscheln und Stachelschweinborsten. Dazwischen lagen Hyänenschädel, Schildkrötenpanzer, Gnugeweihe, Straußeneier, grüne Hennabeutel, Zapfen von exotischen Gehölzen, Glaskugeln in allen Farben, Schalen mit Kupferstücken von Geschossen, zu Puder zerstoßene Dattelkerne, bläulich schimmernde Eisenspäne, Zimtstangen und schmierig braune Seifenpaste. In Regalen übereinandergestellte Flaschen und Gläser mit blauer, geheimnisvoller Flüssigkeit, gelblich öligen Substanzen, durchsichtige Bernsteine, schwarze und rosa Augenschminke. Von den Dachlatten baumelten an Schnüren zerfetzte Leopardenfelle, rote Korallen, Pythonschlangenhäute, präpariere Wiedehopfe, manchmal Störche und immer wieder getrocknete Leguane.

Hannsjörg Voth
in Hassi Romi
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Objektkasten 2
Objektkasten, 1988-89
66 x 91 cm
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Himmelstreppe bei Nacht
Insofern ist diese Treppe ein Zeichen für jedermann, das nicht das Besondere illustrieren, sondern das Allgemeine unseres Daseins ins Bewusstsein haben will. Eine neue Mythologie läßt sich nicht konkretisieren in ihren Inhalten. Aber in diesem Zeichen, als welches die >Himmelstreppe< auch zu verstehen ist, gewinnt sie diesseitige Form von einer Ahnung des Jenseitigen, zumindest des nicht mehr faßbaren, selbst den weiten Horizont der Ebene weit übersteigenden Ganzen. So ist zu verstehen, wenn Voth immer wieder von den wechselnden Ansichten und dem ständig neuen Erleben der Treppe in seinen Briefen und Aufzeichnungen schreibt, vom kleinen Dreieck in der Ferne >im unwirklichen Licht< bis zur Entrückung trotz Nähe: >Als ich heute Abend allein in den Sanddünen saß, war alles so unwirklich, unberührt, das Dreieck aus Lehm merkwürdig entrückt.<

Lothar Romain in: Kein Turmbau zu Babel